Ein filmreifes Publikumsgespräch

Mittwoch Abend.
“My ne zgasnemo” (auf Englisch: “We Will Not Fade Away”) feiert seine Premiere. Dokumentarisch begleitet der Film Jugendliche, die im Donbass groß geworden sind. Als der Krieg dort 2014 ausbrach ware sie nicht älter als elf. Vier der im Film gezeigten Jugendlichen sind heute Abend vor Ort, zu Zweien ist der Kontakt verloren gegangen, als Russland mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine begann. Als Zeichen halten die Jugendlichen eine ukrainische Flagge. Was sich uns nun bietet ist ein wahres Schauspiel, ein Aufwallen tiefstverstörter Emotionen gepaart mit einer Absurdität, die man sich kaum hätte ausdenken können.
Von Anfang an ist die Stimmung angespannt, aufgeladen. Die Moderatorin eröffnet recht schnell die Fragerunde an das Publikum, um dann immer wieder Leuten das Wort abzuschneiden, wenn sie keine Frage stellten, sondern nur einen Kommentar abgeben wollten.
Regisseurin und Übersetzerin können sich scheinbar nicht gut leiden. Immer wieder fallen sie einander ins Wort. Die Übersetzerin scheint angesichts der Kombination dreier Sprachen, Ukrainisch, Russisch, Englisch, schnell überfordert, sodass sich die Regisseurin in der Pflicht sieht, einzugreifen und nun ihre eigenen Aussagen sowohl auf Englisch als auch auf Ukrainisch wiedergibt.
Auf die Frage hin, wie die Jugendlichen, die im Film porträtiert wurden, die Erstellung des Films wahrgenommen hatten, beginnt eine der Darstellerin, sichtbar aufgewühlt und aufgedreht, zu erzählen. Zunächst sprudeln die Worte auf Englisch aus ihr heraus, dann wechselt sie in ihre Muttersprache. Erbost schreit schräg hinter mir eine Stimme “Warum Russisch?”, woraufhin sich das Mädchen zunächst einmal verteidigen muss, warum es in seinem emotionalen Aufruhr automatisch zu seiner Muttersprache zurückkehrt und dass man das bitte verstehen möge.
Das muss man sich erstmal vorstellen. Die Jugendliche hat gerade einen Film über sich selbst gesehen, als zwar nicht alles gut war, aber sie immerhin noch zuhause war, immer noch bei ihrer Familie. In dem sie über den Krieg und die Auswirkungen des Krieges auf sich redet. Ein Krieg, der 2014 begann. Das war vor Putins Angriff auf den Rest der Ukraine. Mittlerweile ist alles noch viel schlimmer. Und jemand aus dem Publikum hält es für nötig, das Mädchen dafür anzukreiden, automatisch Russisch zu reden, in einem Moment, als es so verwundbar ist.

Während sie erzählt, fällt die Übersetzerin ihr immer wieder ins Wort, um parallel zu übersetzen und das Publikum auf dem Laufenden zu halten. Da die Darstellerin immer wieder munter zwischen Englisch und Russisch hin und her springt, ist das gar nicht so einfach. Manchmal redet die Übersetzerin in der Sprache weiter, aus der sie eigentlich gerade übersetzen soll. Das Murmeln im Publikum wird immer lauter. Die Fragen emotional immer aufgeladener und auch fragwürdiger.
“Wie bewältigt ihr die aktuelle Situation des Krieges?” fragt eine Frau die sichtlich traumatisierten Jugendlichen, die sich an ihrer Ukraine-Flagge festklammern. Die Extrovertierte unter den Vieren nimmt sich der Frage an, berichtet, dass ihr Bruder (der ebenfalls auf der Bühne steht), erst vor zwei Monaten aus der Ukraine entkommen ist und wie sie selbst durch die Regisseurin des Films und Helfende aus Belgien gerettet wurde. Wie vier ihrer Geschwister noch immer vor Ort seien und sie unfassbare Angst habe, es kaum ertrage, jetzt nicht bei ihnen zu sein. Und dass sie keine Träume mehr habe. Alle ihre Träume seien zerstört. Ihre Worte sind herzergreifend und unfassbar bedrückend.

Zwischendrin dann immer wieder Fragen aus dem Publikum, in denen die Fragen kaum zu hören sind. “Lauter!” schallt es von einer Seite und auch die Übersetzerin kämpft sichtlich damit, die Fragen akustisch zu verstehen. Die Regisseurin, die näher dran steht, greift die Frage auf, übersetzt sie selbst und antwortet anschließend. Frustriert steht die Übersetzerin auf, die zum Verstehen in die Hocke gegangen war, und wirft einen genervten Seitenblick über die Bühne.

Die nächste Frage. Eine Frau entschuldigt sich, dass sie auf Russisch rede. Ihre Frage: Was denken die Jugendlichen, wie es ihnen gehen würde, wäre der Krieg nie ausgebrochen. Empörung aus dem Publikum. Während die Moderatorin noch versucht einzugreifen und wiederholend sagt “You do not have to answer this question if you don’t want to”, rufen mehrere Stimmen aus dem Publikum “Next question, next question”. Der eine Jugendliche antwortet nur knapp “Dann gäbe es weniger Tote”. Ein anderer ruft etwas auf Ukrainisch, das von vielen im Publikum erwidert wird.

Als das Team von der Bühne verabschiedet wird, gibt es noch Standing Ovations aus dem Publikum. Eine weitere ukrainische Parole wird während des Applaus’ gerufen. Die Übersetzerin übersetzt, was allerdings nicht wirklich hörbar ist, da der Beifall weiter aufbrandet. Als er verklingt liefert die Regisseurin nun ebenfalls die Übersetzung. “That’s what I just said” kommt als frustrierte Antwort von der anderen Seite der Bühne zurück, was unter dem erneuten Beifall jedoch diesmal kaum auffällt.
Zum Abschluss dann noch einmal das ganze Team auf die Bühne. Tosender Applaus.

Draußen vor dem Saal werfen wir uns erhobene Augenbrauen zu, sind noch dabei zu begreifen und zu verarbeiten, was gerade alles passiert ist, wie knapp es vielleicht zwischenzeitlich vor einer Eskalation war. Während wir uns noch austauschen kommt hinter uns das Filmteam aus dem Saal, Regisseurin und Übersetzerin nebeneinander, miteinander argumentierend. Im nächsten Moment nehmen sie sich in die Arme und atmen tief durch.

Was für eine Premiere.
Das Publikumsgespräch, die Antworten des Filmteams und die aufgeladene Stimmung im ganzen Raum werden sicherlich, ebenso wie der Film selbst, noch länger nachklingen.

25.02.2023, Sarah Gosten

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