Das Paradoxon der Freiheit

Eine Kritik zu Le Paradis (The Lost Boys)
English version here.

Meine Erkältung noch nicht ganz auskuriert bin ich am Sonntagnachmittag schon am überlegen, ob ich meine Karte für die Premiere von „Le Paradis“ am Abend stornieren sollte. Im Hinterkopf, dass der Film mit seinen 83 Minuten recht kurz ist, beschließe ich dann doch noch hinzugehen und mache mich ohne große Erwartungen auf den Weg ins Kino. Doch schon bei den ersten Szenen des Filmes weiß ich, dass es die richtige Entscheidung war und bin unfassbar glücklich, dass ich mich doch dafür entschieden habe hinzugehen. Denn „Le Paradis“ berührt mich von den ersten Minuten hin bis zur letzten Sekunde. Zweieinhalb Tage später bin ich immer noch so begeistert, dass ich mir direkt ein Ticket für die letzte Vorstellung am Freitagnachmittag buche, um Zeno Gratons Spielfilmdebüt noch einmal sehen zu können.

Im Grunde erzählt „Le Paradis“ von einer zärtlichen Entwicklung von Liebe zwischen zwei Menschen - nichts Ungewöhnliches - dafür aber der gewählte Ort um so mehr. Denn Joe (Khalil Gharbia) und William (Julien de Saint Jean) leben in einer Jugendstrafanstalt. Zwischen routinierten Tagesabläufen, Lern- und Sporteinheiten sowie den nächtlichen Kontrollen, ob auch niemand abgehauen ist, bleibt normalerweise nicht viel Raum und Zeit für Annäherungen und Zärtlichkeit. Joe und William finden diesen Raum aber irgendwie, und neben den Gedanken und Träumen von dem Leben Außerhalb dominieren plötzlich auch andere Fragen und Gefühle die Köpfe und Körper der beiden: Was und wo ist überhaupt die Freiheit, auf die sie hinarbeiten und von der sie träumen? Und wo finden sie das Glück, nach dem sie suchen?

William zeichnet gerne, er drückt sich und seine Gedanken dadurch aus. Gleichzeitig werden seine Zeichnungen zu Symbolen, die sich durch den ganzen Film ziehen. Eine Schlange, sie sich selber in den Schwanz beißt - ein „nordischer Drache“, der Beschützer der See. Joe ist besonders fasziniert von ihr und lässt sie sich von William tätowieren. Für die beiden ein Zeichen der Verbundenheit, eine Abschottung und Schutz vor der Welt außerhalb und dem System. Gleichzeitig spiegelt sie beinahe die Geschichte und das Leben hinter Gittern der Jugendlichen wider: Die nie endende Schwebe, in der sie sich befinden, zwar unterstützt durch ihre Betreuer:innen in der Jugenstrafanstalt, aber das System gegen sich. Immer wieder Rückschläge verzeichnend und vielleicht sogar ganz die Hoffnung aufgebend, irgendwann wieder ein Leben in der Gesellschaft führen zu können.

Symbole und Metaphern dieser Art sind in „Le Paradis“ viele zu finden, wodurch der Film eine wunderbare Ästhetik bekommt. Unterstützt wird das durch die sanfte und sehr ausdrucksstarke Kameraführung von Olivier Boonjing, der die Bandbreite an Gefühlen, die Joe, William und die anderen Insassen durchleben, perfekt auffängt. Der Frust, die Aussichtslosigkeit, die Einsamkeit; aber gleichzeitig auch die Verbundenheit, Hoffnungsschimmer und kleine Funken von Glück, die die Jungen spüren, werden zum Ausdruck gebracht. Auch alle Darstellenden und besonders Gharbia und de Saint Jean leisten dabei unglaublich gute Arbeit. Das letzte Puzzleteil wird von Bachar Mar-Khalifé ergänzt, der für die Musik in „Le Paradis“ verantwortlich war und mit ihr die Szenen wunderbar untermalt und das Gesamtbild des Filmes abrundet.

Es fällt mir schwer überhaupt etwas zu finden, was ich an „Le Paradis“ kritisieren könnte. Gratons Film hat mich auf eine Weise berührt, wie es kaum ein anderer Generation Film dieses Jahr geschafft hat. Selten konnte ich die Wünsche, Träume und Begehren der Charaktere so sehr mitfühlen und miterleben, wie immer wieder neue Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit gefunden wird. Ich kann es nur allen ans Herz legen, „Le Paradis“ noch während des Festivals zu schauen. Eine Chance dazu habt ihr noch heute (22.02.) um 18:30 im Filmtheater am Friedrichshain oder am Freitag (24.02.) um 15:00 Uhr im Zoo Palast 1.

Wer noch einen Blick hinter die Kulissen von „Le Paradis“ werfen mag oder die Gedanken des Regisseurs und der beiden Hauptdarsteller zu interessanten Fragen lesen möchte, kann hier Konstantins Interview mit Zeno Graton, Khalil Gharbia und Julien de Saint Jean finden.

22.02.2023, Clara Bahrs

Keine Kommentare

Latest Blog Posts