Anschnallen für die nächste Runde


„Bald habt ihr sowieso Corona-Ferien, dann könnt ihr ja in Ruhe eure Kritiken schreiben.“

Ich erinnere mich noch an diesen Satz, als wäre unser Berlinale-Nachtreffen erst gestern gewesen. Die Berlinale 2020 war begleitet von einem sich rasant schlechternden Zustand des italienischen Gesundheitssystems, diversen Hygienemaßnahmen und täglichen Absagen anderer großer Messen und Veranstaltungen. Ich selbst bekam davon kaum etwas mit, so sehr war ich im Rausch des Festivals gefangen. Erst Tage später wurde ich mir der veränderten Lage in der Welt bewusst. Dennoch ahnten wir beim Nachtreffen noch nichts von dem, was unmittelbar bevorstand. Dass die scherzhaft in den Raum geworfene Aussage bald bittere Realität werden würde, war uns nicht klar.

Ziemlich genau ein Jahr später wissen wir, wie der Hase läuft. Kontaktbeschränkungen, geschlossene Geschäfte, Absagen für große Festivals wie die Berlinale gehen in die zweite Runde. Doch das Berlinale-Team, diese 70 Jahre alte Maschine, das riesige dynamische Ungetüm, von dem ich im letzten Jahr so liebevoll gesprochen habe, hat sich keinen Strich durch die Rechnung machen lassen. Ein Jahr Pandemie und die Veranstalter*innen unseres Lieblingsfestivals konnten eine elegante und pragmatische Lösung zugleich finden. Ein viertägiges Industrieevent im März mit Fachbesucher*innen und vor allem der Auswahl der preistragenden Filme durch die vielen Jurys. Und ein Berlinale Summer Special in Open Air Kinos vom 09.-20.06. mit zwar begrenzten Möglichkeiten - aber eben doch mit Möglichkeiten.

Kurz vor diesem Summer Special ist es den Presseakkreditierten möglich, 12 Tage lang auf fast alle Filme des Programms online zuzugreifen. Obwohl ich nicht mehr in Berlin wohne, zähle also auch ich wieder zu den glücklichen Akkreditierten und darf mich momentan über eine Filmauswahl freuen, wie sie mir nur einmal im Jahr während der Berlinale zur Verfügung steht. Gleichzeitig fallen die Wege zu den Kinos weg, der morgendliche Stress, die Pressetickets für den Folgetag zu besorgen, und ich kann mir meinen Filmzeitplan so flexibel wie noch nie einteilen, was ein Jonglieren von drei bis vier Filmen täglich neben Uni und Arbeit ermöglicht.

Was ebenfalls fehlt? Das Berlinale-Gefühl. Am Potsdamer Platz zwischen hunderten Pressemenschen und Filmschaffenden herumzulaufen und nach einem Zwischenstopp bei Brammibals Donuts einmal mächtig Berlinalespirit aufzusaugen, bevor es richtig losgeht und natürlich immer wieder zwischendurch. Unsere Akkreditierungen und Berlinaletaschen zum ersten Mal in Händen zu halten. Einen Haufen Tickets bei unserer lieben Britta abzuholen. Bernadette, die Pressesprecherin von Generation, nach regem Emailaustausch wieder live zu sehen. In der Schlange zum nächsten Film zu stehen und auf einmal loszurennen, wenn die Absperrbänder endlich gelöst werden. Den Berlinaletrailer zu sehen und vielleicht ein paar Glückstränen zu verdrücken. Die magischen Worte von Maryanne und Tobi zu vernehmen oder von den Hauptdarsteller*innen des Eröffnungsfilms. Vor allem aber die Gespräche mit anderen Teammitgliedern. Gemeinsam den letzten Film zu verdauen oder vielleicht auch einen von vor drei Tagen, der noch immer schwer im Magen liegt. Über Lieblingsszenen zu lachen oder fasziniert von Themen zu sprechen, über die wir uns vor einem bestimmten Film kaum oder noch nie Gedanken gemacht haben. Auch der Austausch mit den Filmschaffenden. Inspirierende Interviews mit Menschen vom anderen Ende der Welt, die sich auch für uns gerne über eine Stunde Zeit nehmen und uns nicht nur Rede und Antwort stehen, sondern ebenso unsere Meinungen hören wollen. Das Hetzen von einem Kino ins nächste, das nur möglich ist, weil ein Teammitglied schon einen Platz freihält. Nachts nach der letzten Vorstellung allein im Zimmer zu sitzen und endlich Zeit zum Schreiben zu finden, gerne bis in die frühen Morgenstunden.

Es ist ein Lebensstil, wie er nur für diese 10 Tage im Jahr durchzuhalten ist. Der Mangel an Schlaf, gesunder Ernährung und Ruhe wird gerade lange genug mit Adrenalin und Glückshormonen kompensiert, um am zweiten Berlinalesonntag nach der teilweise 30. Vorstellung gut nach Hause zu kommen und dann erst einmal ins Bett zu fallen.
Ein Lebensstil, den ich mir jedes Jahr bewusst aufs Neue aussuche. Es klingt nicht gesund und das ist es vermutlich auch nicht. Aber jeder Mensch, der für dieses Festival brennt, wie wir es tun, schnallt sich Jahr für Jahr erneut an, um in die Berlinaleachterbahn zu steigen und ordentlich durchgerüttelt zu werden. Und was für eine Achterbahnfahrt das immer wieder ist.

Es ist ein Glück und ein Privileg, auch in dieser Sonderedition Teil der Berlinale zu sein. Wir freuen uns wahnsinnig und sind bereits jetzt fleißig am Filmeschauen. Und obwohl es eben so ein Glück ist, dass das Festival überhaupt stattfinden kann - das Miteinander fehlt, wie bei so vielen Dingen inmitten dieser Pandemie. Es fühlt sich an, als wären wir am Ende der letzten Berlinale einfach nicht aus der Achterbahn ausgestiegen, nur dass wir eben auf einmal 2 Meter voneinander entfernt sitzen und meist für uns allein schreien. Für manche ist die Achterbahn auch über Kopf stehen geblieben.

Es ist eine triste Analogie. Und doch überkommt mich schon nach den ersten Berlinalefilmen wieder ein Fünkchen Hoffnung. Die Filmschaffenden haben der Pandemie getrotzt und ihre Produktionen mit geeigneten Hygienekonzepten fortgesetzt. Die Berlinale selbst läuft vielleicht gerade eher brav an der Leine, aber das bedeutet nicht, dass sie nicht auch so wunderschön ist und vielleicht schon im nächsten Jahr wieder frei herumspringen darf. Es fühlt sich an, als hätten Menschen überall auf der Welt einander die Hand gereicht. Die Verbindung ist eingeschränkt und erfolgt größtenteils digital. Aber sie ist da. Und für mich ist das alles, was zählt.

In den kommenden Wochen werden wir tun, was wir jedes Jahr am liebsten tun: bereichernde Filme ansehen, Kritiken und Hintergrundartikel schreiben und Interviews führen. Wir haben erneut Zuwachs bekommen und freuen uns wahnsinnig über unsere Teamerweiterung. Wir haben erstmals nicht nur Zugang zu Generationfilmen, sondern auch zu allen anderen Sektionen. Alle Veränderungen haben die Macht, Gutes mit sich zu bringen. Und wie jedes Jahr ist es dieses Gute, auf das wir uns konzentrieren wollen. Denn was uns dieses Jahr so fehlt, was uns erst jetzt so schmerzlich bewusst wird, darauf können wir uns im nächsten Jahr umso mehr freuen. Bis dahin halten wir die Ohren steif und schützen Menschenleben - im Berlinalefieber auf der Couch. Bequemere Achterbahnsitze gibt es sonst vermutlich nirgendwo.
29.05.2021, Johanna Gosten

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