Einen eigenen Weg finden

Nach einigem Hin- und Herschieben meines Berlinalezeitplans schaffe ich es, die Kurzfilmrolle 3 wenigstens am zweiten Sonntag unterzubringen. Durch glückliche Umstände kann auch Clara mitkommen und wir treffen vor dem Cubix direkt einen netten Menschen, der eine Karte übrig hat und nicht einmal Geld dafür haben möchte. Und was für ein schöner Abschluss es für die diesjährige Berlinale ist. Wir begleiten sechs Protagonist*innen, die sich in den unterschiedlichsten und schwierigsten Umständen behaupten und ihren eigenen Weg in unserer Welt bahnen.

Hauptgrund für meinen Wunsch, diese Rolle zu sehen, ist wohl Broken Bird. Birdie wächst zwischen zwei Welten auf: ihre weiße Mutter erzieht sie mit dem jüdischen Glauben, auf der anderen Seite steht ihr dunkelhäutiger Vater mit der afroamerikanischen Kultur. Es ist eine Gratwanderung, die Birdie auf ihrem Weg begleitet, beide Welten für sich selbst miteinander zu vereinen. Rachel Harrison Gordon bewerkstelligt die Symbiose von sehr gegensätzlichen Stereotypen auf wundersame Weise. Sie zeigt uns, wie schwer es sein kann, den eigenen Weg zu finden, und dass es im entscheidenden Moment doch auf einmal so leicht und befreiend sein kann. Autobiografisch inspiriert ist Borken Bird ein authentischer und in sich stimmiger Kurzfilm.

Schwieriger fällt mir die Einfindung in A Fool’s God. Vielleicht liegt es daran, dass wir in einer Welt geworfen werden, die mir so vollkommen fremd ist. Gleichzeitig wird von erster Sekunde an die Unterdrückung von Frauen und die Ungerechtigkeiten unserer binären Welt hervorgehoben. Als ihr Bruder es nicht über sich bringt, ein Huhn zu schlachten, übernimmt Mesi dies ohne mit der Wimper zu zucken. Als ihre Mutter kurz darauf stirbt, wird Mesi dafür die Schuld zugeschoben, weil sie etwas getan hat, das ihr nicht zustand.
In den nächsten Minuten des Films diskutieren Enkelin und Großmutter nie direkt darüber - vielmehr erzählen sie sich die immer gleiche Geschichte in unterschiedlichen Versionen und machen so ihre eigenen Standpunkte mehr als deutlich. Es ist eine außergewöhnliche Art des Geschichtenerzählens und während ich mich erst nach einiger Zeit an den Erzählstil gewöhnen konnte, war es doch interessant, die Auflehnung des jungen Mädchens in dieser Art zu verfolgen, ohne dass sie sich jemals klar gegen ihren Großmutter stellen musste, um ihre emanzipierte Meinung zu vertreten.

Einen mehr als bezaubernden Abschluss der Rolle liefert toni_with_an_i. Innerhalb von 12 Minuten wird das Herz der Generation Z auf der Leinwand gezeigt und der Nabel der Zeit getroffen. Toni stellt Lipsync Videos online und ist ein allzeit positiver Mensch. In der Schule muss sie deshalb aber so einiges über sich ergehen lassen.
In diesem überaus farben- und hoffnungsfrohen Film lernen wir, was es heißt, zu sich selbst zu stehen und über sich hinauszuwachsen. Dass Positivität immer über Negativität stehen wird und man es weit bringen wird, wenn man groß träumt und an die eigenen Träume glaubt.
Bewusst zeigt toni_with_an_i die positiven Seiten des Internets. Wir alle kennen die traurigen Geschichten und gefährlichen Aspekte des WWW, aber was wir oft vergessen, ist, wie aufbauend es ebenfalls sein kann. Wie verbindend. Wie hoffnungstragend. All das wird in toni_with_an_i gezeigt und erklärt, warum viele GenZ-Kinder sich im Netz so wohl fühlen und es so für sich entdeckt haben, statt sich täglich den Realitäten des analogen Lebens zu stellen.

toni_with_an_i, © Marco Alessi
Zu den anderen drei Kurzfilmen der Rolle notiert Clara ein paar Gedanken:

El nombre del hijo
„El nombre del hijo“ gibt 18 Minuten lang Einblick in die Welt von Lucho, einem transgender Jugendlichen, der mit Vater und Schwester zum Urlaub in ihr Strandhaus fährt. Ohne viele Worte werden Gefühle und Gedanken von Lucho durch authentische schauspielerische Leistung auf die Leinwand gebracht und das Publikum entwickelt Verständnis und Mitgefühl für einen Jungen, dessen Körper sich anders entwickelt als er sich es wünscht.
Besonders die Rolle des Vaters, der mit viel Verständnis und Rücksicht alles Mögliche versucht, um seinen Sohn zu unterstützen, gibt „El nombre del hijo“ eine großartige Botschaft. Für mich ein Film, der die Auszeichnung beider Jurys auf jeden Fall verdient.
El Nombre del Hijo, © Constanza Sandoval


Onderhuids
Regisseurin Emma Branderhorst erzählt im niederländlischen Kurzfilm „Onderhuids“ (Unter die Haut) von verstecktem Mobbing und Konkurrenzkampf im Leistungssport von jungen Mädchen - und die Auswirkungen davon. Mit dem Unterwassersport als Metapher für das (Un)sichtbare bekommt das Publikum zu spüren, wie sehr unechte Freundschaft und Hinterhältigkeit junge Mädchen belasten und mitnehmen kann und wohin es führt, wenn das Konkurrenzdenken im jungen Alter wichtiger als der Zusammenhalt untereinander wird.

Money Honey
Im neuseeländischen Kurzfilm „Money Honey“ begleiten wir einen Nachmittag lang Red und Hank, wie sie ihre Freizeit damit vertreiben ihr Taschengeld etwas aufzubessern. Unbefangen können wir die beiden dabei verfolgen wie sie im Skaterpark Schokoriegel und Limonade verkaufen und vermeintlich ihren Spaß haben. Nur durch kurze Szenen am Ende wird die doch ernste Thematik deutlich, die Regisseur Isaac Knights-Washbourn in seinem Film verarbeitet - die Wohnungskrise und der Häuserkampf in Neuseeland. Weil diese Problematik nur so kurz belichtet und weder in Worte gefasst noch erklärt wird, ist „Money Honey“ in meinen Augen zwar ein ausdrucksstarker Kurzfilm, der aber sicherlich vom Großteil der K-Plus Zielgruppe nicht vollkommen verstanden werden kann.

16.03.2020, Clara Bahrs und Johanna Gosten

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