Eine Challenge für die Sehgewohnheiten

Eine Kritik zu "The Body Remembers When The World Broke Open"
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Áila verkörpert alles, was Rosie nicht ist: Zwar wird sie auch als indigen bezeichnet, jedoch ist sie schlank, privilegiert, wohnt in einem schönen Apartment und kann bestimmen, ob sie ein Kind bekommen möchte. Rosie indes, aus einem indigenen Volk Kanadas stammend, von ihrem Freund unterdrückt und misshandelt, verfügt über keinerlei Mittel, alleine zurecht zu kommen. Noch dazu ist sie hochschwanger. In „The Body Remembers When The World Broke Open“ kommt es zu einer Begegnung der besonderen Art zwischen diesen beiden Charakteren.
Als Áila Rosie auf der Straße entdeckt, barfuß, vollkommen verlassen und überfordert im Regen stehend, den Freund auf der anderen Seite der Straße wütend brüllend, nimmt Áila sie kurzerhand bei sich zuhause auf. Angelehnt an ein One-Cut-Format entfaltet sich der Film an einem Nachmittag auf authentische Weise und läuft dabei fast in Echtzeit ab. Die Unsicherheit und Ratlosigkeit auf Seiten Áilas, wie sie nun mit der Situation umgehen soll, werden zu Beginn präzise eingefangen, wodurch sich die ZuschauerInnen mit ihr identifizieren können. Gleichzeitig erfolgt die Charakterisierung Rosies, die äußerst antipathisch dargestellt wird. Den Umständen entsprechend wirkt sie ungebildet, ungepflegt und unansehnlich, redet nicht und versucht auch nicht, Áila auf irgendeine Art zu unterstützen, klaut ihr im Gegenteil bei erstbester Gelegenheit das Portemonnaie. Es fällt schwer, mit so einer Person umzugehen, mit der man sich in keinster Weise identifizieren kann, die noch dazu keinerlei westlichen Schönheitsidealen entspricht. Jedoch ist es genau dies, was den Film so realistisch und besonders macht.
© Experimental Forest Films / Violator Films
Der weitere Verlauf des Films zeigt Möglichkeiten für Rosie auf, wie sie ihrer aktuellen Situation entfliehen kann. Dabei wird vermittelt, wie Frauenhäuser versuchen Mädchen oder Frauen in ähnlichen Positionen wie Rosie zu helfen, sie dabei jedoch unter keinerlei Druck setzen möchten, sondern die Vorteile aufzeigen, sie jedoch auch gehen lassen, falls sie sich entscheidet, in ihr gewalttätiges Umfeld zurückzukehren. Es ist frustrierend und ernüchternd, ihre Lage mitanzusehen. Auch wenn man die Antipathie nicht ganz ablegen kann, so lernt man mit der Zeit jedoch, Mitgefühl für sie zu entwickeln, wenn sie davon erzählt, wie der Freund sie so sehr schlägt, dass sie sich nicht mehr die Haare kämmen kann, da sie die Schmerzen nicht ertragen würde. Im anschließenden Publikumsgespräch verweisen die zwei Regisseurinnen auf den hohen Anteil der häuslichen Gewalt insbesondere bei indigenen Frauen und das noch höhere Risiko, das sie sich aussetzen würden, wenn sie ihren Partner verlassen würden. All dies macht auf die Ungerechtigkeit der Welt sowie die Misshandlung und Unterdrückung von Frauen, insbesondere nicht weißen Frauen, aufmerksam.
In dem Film hat die Co-Regisseurin Elle-Máijá Tailfeathers eine persönliche Begegnung verarbeitet, spielt Áila sogar selbst. Alles wirkt äußerst authentisch, insbesondere das One-Cut-Format zeigt deutlich die Bedeutung dieses einen Nachmittags für sie. Und auch das Publikum wird nachdenklich gestimmt ob dieser Ungerechtigkeit und Aussichtslosigkeit der Situation. Der Film zeigt auf, dass man nicht immer helfen oder die Entscheidungen für jemand anderen treffen kann und gerade in solchen Gegebenheiten der Entschluss von der Leidtragenden letztendlich selbst kommen muss.
Ein Film, der mich sehr berührt hat, mich zwang, über die Antipathie hinwegzukommen, und mich mit einer Aussichtslosigkeit und Hoffnungslosigkeit konfrontierte, die schwer zu ertragen ist. Äußerst sehenswert!

Sonntag, 17. Februar 2019, Sarah Gosten



Challenging Viewing Habits


Áila embodies everything Rosie is not: while also being indigenous, she still is slim and privileged, lives in a beautiful apartment and can decide whether she wants to have a child or not. Rosie, however, from an indigenous people of Canada, oppressed and abused by her boyfriend, has no means to get along on her own. Moreover, she is quite pregnant. In "The Body Remembers When The World Broke Open" a very special encounter between these two characters is shown.
When Áila discovers Rosie on the street, standing in the rain barefoot and completely overwhelmed, her boyfriend on the other side of the street angrily roaring, Áila takes her in. Based on a one-cut format, the film unfolds in an authentic way in one afternoon running almost in real time. The insecurity and helplessness on the side of Áila, who does not know how she is supposed to deal with the situation, are precisely captured at the beginning making the audience identify with her. At the same time, the characterization of Rosies takes place, who is portrayed in an extremely antipathic way. According to the circumstances she appears uneducated, unkempt and unsightly, does not talk and does not try to support Áila in any way, on the contrary is stealing her wallet at the first opportunity. It is difficult to deal with such a person not being able to identify yourself with her in any way. However, this is exactly what makes the movie so realistic and special.
© Experimental Forest Films / Violator Films
The further course of the film shows up ways on how Rosie could escape her current situation. The film shows how women's shelters try to help girls or women in similar positions as Rosie. Trying to not put them under any pressure they rather show up advantages, but also let them go if they decide to return to their violent environment. It is frustrating to see her situation. Even if you cannot completely rid yourself of the antipathy, you learn to develop compassion for her over time hearing her talk about how her boyfriend beats her so hard that she cannot comb her hair, not being able to stand the pain. In the following audience discussion, the two co-directors refer to the high proportion of domestic violence, especially among indigenous women, and the even higher risk they would expose themselves to if they were to leave their partner. The injustice of the world as well as the abuse and oppression of women, especially non-white women, are highlighted.
In the film, co-director Elle-Máijá Tailfeathers processes her personal encounter with a comparative situation, even playing Áila herself. That is another reason for everything to seem extremely authentic. Especially the one-cut format clearly shows the importance of this one afternoon for her. Furthermore, the audience is made to think about the injustice and hopelessness of the situation showing that you cannot always help or make decisions for someone else and that it is precisely in such circumstances that the person who suffers has to come to the conclusion herself.
A film that touched me very much, forced me to get over my antipathy and confronted me with a hopelessness that is difficult to bear. Extremely worth seeing!

Sunday, 17th Feb 2019, Sarah Gosten

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